18. August 2021

Autismus ist kein Prozessfehler, es ist ein anderes Betriebssystem

Trotz guter Ausbildung erleben viele Menschen mit einem autistischen Hintergrund Nachteile auf dem Arbeitsmarkt.

von Kathrin Schneckenburger & Lukas Barwitzki, auticon Swiss AG

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Bewerbungsgespräch und die HR-Fachperson prüft Ihre Fähigkeiten, in einer Fremdsprache zu kommunizieren, die Sie nie gelernt haben. So in etwa fühlen sich die meisten Menschen auf dem Spektrum, die in Bewerbungsgesprächen eingehend auf soziale Interaktions- und Auftrittsfähigkeiten geprüft werden.

Einige sind zwar so clever, dass sie ihre völlig andersartige Erlebniswelt und Wahrnehmung hinter antrainierten Verhaltensweisen verstecken können. Doch viele hochqualifizierte und begabte IT-Spezialisten können dies nur unzureichend und bleiben darum trotz ihrer Qualifikationen beruflich auf der Strecke.

Integration ist eine Herausforderung

Die für Betroffene schwierig zu bewältigen Alltagsituationen erschwert es diesen, sich ins soziale Gefüge einer Unternehmung zu integrieren. Schwierig wird es erst recht, wenn eine Person mit einem autistischen Hintergrund der vorgesetzten Person unverblümt und sehr direkt Schwachstellen in einem Projekt oder Prozess aufzeigt. Vorgesetzte sehen darin meist nur einen direkten, persönlichen Angriff auf sich und erkennen nicht den lösungsorientierten Ansatz des Mitarbeitenden.

Viele Personen auf dem Spektrum können weder soziale Situationen noch nonverbale Signale wie Mimik und Gestik intuitiv richtig deuten. Ironie beispielsweise, also das eine sagen und das Gegenteil meinen, ist für sie oft nur schwer zu erkennen. Sagt eine vorgesetzte Person mit begleitendem Augenrollen «Das war jetzt aber wirklich eine Glanzleistung», verstehen dies Personen mit einem autistischen Hintergrund oft als ein klares Lob.

Nicht-Beachtung kann zu Depressionen führen

Ebenso sind die vielen ungeschriebenen Gesetze und impliziten Regeln, die unseren Alltag prägen, für sie weder auf Anhieb erkennbar noch logisch oder sinnvoll. Smalltalk beispielsweise, also dass man Beziehungen durch den Austausch von irrelevanten Informationen aufbaut, müssen viele Betroffene erst über längere Zeit hinweg lernen.

Um schwer verständliche und emotional belastende Situationen wie diese zu vermeiden, haben viele Betroffene gelernt, sich ruhig und still zu verhalten, möglichst nicht aufzufallen und nicht anzuecken. Doch trotz ihrer stetigen Anpassungsleistung kommt es immer wieder zu Missverständnissen. Nicht selten führt dieser konstante psychische Druck zu Depressionen, die zu Problemen am Arbeitsplatz führen und schliesslich mit der IV-Anmeldung enden.

Nur ein Drittel im ersten Arbeitsmarkt

Empirische Studien gehen davon aus, dass nur rund ein Drittel der Personen auf dem Spektrum im ersten Arbeitsmarkt beschäftigt sind. Trotz hoher Leistungsfähigkeit und häufig sehr guter Ausbildung drohen ihnen oft längere Perioden von Arbeitslosigkeit, Gelegenheitsjobs und übermässige Jobwechsel.

Ausserdem werden Personen mit einem autistischen Hintergrund trotz ihrer Qualifikationen oftmals nicht befördert. Grund dafür ist nicht die Fachkompetenz, sondern der Fokus auf «Soft Skills» und «charismatische» Persönlichkeiten bei der Vergabe von Führungspositionen. Zudem werden Betroffene bei wichtigen Entscheidungen in Teams nicht beachtet oder aktiv übergangen und sind auch häufiger Opfer von Mobbing und Ausgrenzung am Arbeitsplatz. Am Ende verlieren alle Seiten: die Menschen auf dem Spektrum erleben Ausgrenzung und die psychischen Folgen davon, die Unternehmen verlieren wertvolle, gut ausgebildete Fachkräfte in einem angespannten Arbeitsmarkt.

Was ist Autismus?

Autismus ist keine Krankheit, die sich heilen lässt, sondern ein anderes «Betriebssystem». Dies zeigt sich in einer besonderen Art, die Umwelt wahrzunehmen und die so erhaltenen Informationen zu verarbeiten. Das bereits vielen bekannte Asperger-Syndrom ist ein Teil des Autismus-Spektrums (ASS). Das Wort «Spektrum» macht deutlich, was Stephen Shore, Professor für Sonderpädagogik an der Adlephi University und selbst Autist, wie folgt beschreibt: «If you have met one autistic person, you have met one autistic person.» Tatsächlich reicht das Spektrum vom hochfunktionalen Genie bis zur Person, die im Alltag auf umfassende Unterstützung angewiesen ist. Etwa 1,5 Prozent der Bevölkerung sind «auf dem Spektrum», Männer werden dabei öfter diagnostiziert als Frauen.

Obwohl Stereotypisierungen heikel sind, gibt es klare Erkennungsmerkmale für das Spektrum, vor allem betreffend Interaktion, Kommunikation und Sensorik. Grundsätzlich sind die Wahrnehmungs- und Denkprozesse von Personen auf dem Spektrum ausgesprochen fakten- und detailorientiert. Typische Stärken sind die Begabung zur Erkennung komplexer Muster, Präzision in anspruchsvollen Aufgaben, Ehrlichkeit und Sachlichkeit, sowie die überdurchschnittliche Fähigkeit, über lange Zeit fokussiert zu arbeiten.

ps: Fortsetzung folgt zum Thema «Welche Arbeitsbedingungen erleichtern Personen auf dem autistischen Spektrum eine erfolgreiche Arbeitstätigkeit»

 

Foto: Kent Smith

Disclaimer: Auticon Swiss AG ist ein swissICT Firmen-Mitglied. Firmen-Mitgliedern steht unser Blog offen für Themen-Inputs und Fachartikel. Die Beiträge müssen journalistischen Anforderungen genügen und dürfen nicht werblich sein. Sie möchten auch einen Beitrag publizieren? Für Fragen dazu benutzen Sie gerne dieses Kontaktformular.

Kathrin Schneckenburger

 

Kathrin ist fasziniert von der menschlichen Vielfalt und geniesst den Humor ihrer Coachees (Kathrin Schneckenburger, Arbeits- und Organisationspsychologin)

Lukas Barwitzki

 

Lukas hat mittelalterliche Geschichte studiert und sich dann in die IT-Branche verlaufen (Lukas Barwitzki, Senior Project Leader)

Autismus ist ...

  • eine andere Art der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung
  • nicht sichtbar
  • weiter verbreitet als man denkt – Prävalenz: circa 1.5 Prozent der Bevölkerung
  • 3:1 Verteilung männliche/weibliche Personen (heutiger Wissensstand)
  • offiziell bezeichnet als Autismus-Spektrums-Störung, kurz ASS
  • ASS umfasst die früheren Diagnosen Asperger-Syndrom, frühkindlicher Autismus, u.w.
  • enorme Bandbreite an Personen aus dem autistischen Spektrum: vom herausragenden, hochfunktionalen Genie bis zu Personen, die auf umfangreiche Unterstützung angewiesen sind
  • Stärken: Überdurchschnittliche Fähigkeiten in Mustererkennung, Präzision, Qualität, sachlicher Herangehensweise, Ehrlichkeit, usw.
  • Herausforderungen: Soziale Interaktion und Kommunikation sowie Sensorik (Reizüberflutung)
  • Informationen zum ganzen Spektrum unter autismus deutsche schweiz (autismus.ch)

An dieser Stelle verlinken wir gerne auch noch eine Grafik, die zeigt, wo autistische Personen ihre besonderen Stärken haben.

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